Weißgerber

 

Das 2019 im Zürcher Orell Füssli Verlag erschienene Buch Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war von Christian Ernst Weißgerber gibt – wie im Titel formuliert – Auskunft über die Gründe, die den Verfasser veranlasst hatten, in der Neonaziszene seine politische und emotionale Heimat zu finden.  .

Geboren wurde Christian Ernst Weißgerber 1989 in der geschichtsträchtigen westthüringischen Wartburg-, Luther-, Bach-, Burschenschafts- und Autostadt Eisenach unweit der damaligen Grenze zur Bundesrepublik Deutschland. Doch treten der Ort der Kindheit und der spätere Studienort Jena als Städte eigenen Charakters wenig in Erscheinung.

Weißgerber ist ein Kind der Wendezeit, d. h. der Jahre unmittelbar nach dem Ende der DDR mit den bekannten  einschneidenden beruflichen, sozialen, strukturellen und emotionalen Folgen für große Teile der Menschen in den „neuen Ländern“.

Dieser Hintergrund einer insgesamt verunsicherten Gesellschaft, nachdem alles, was vorher galt, obsolet geworden war, ist in Weißgerbers Buch präsent, wird von ihm als bekannt vorausgesetzt und vor allem dann thematisiert, wenn er auf die Einstellung und Haltung seines Vaters zu sprechen kommt. Weißgerbers Sicht auf diesen Mann ist unversöhnlich; an ihm arbeitet sich der Sohn ab  – und so ist seine Veröffentlichung auch eine traurige Vater-Sohn-Geschichte. Weißgerbers Vater empfindet sich als Wendeverlierer, sieht sich als den guten, fleißigen, solidarisch lebenden DDR-Bürger, dessen Tugenden im neuen Deutschland nicht mehr gefragt seien. Seine Ehe scheitert kurz nach der Geburt des Sohnes. Von der Rolle des alleinerziehenden Vaters zweier Kinder ist er mehr als überfordert; ihnen gegenüber ist er autoritär, ungerecht und selbstgerecht, er  lässt sie von klein auf im Haushalt hart arbeiten, brüllt sie an und prügelt auf sie ein, bestraft sie für alles mögliche. Sein Sohn sieht sich auf Grund der schlechten Wohnverhältnisse und der billigen Kleidungsstücke, die er zu tragen gezwungen ist, der Unterschicht zugehörig. Dies ist insofern nicht ganz korrekt, als er einerseits das Gymnasium besuchen und Abitur machen kann und andererseits sein Vater durchaus über Geld verfügt, mit dem er später ein (wenn auch heruntergekommenes) Haus erwirbt. Ein Äquivalent zu diesem Vater, also eine Person, die dem Sohn mit Liebe begegnet wäre, scheint es in seiner Kindheit nicht gegeben zu haben.

Da Weißgerber keine Autobiographie, sondern ein zeithistorisches Buch zum Thema Rechtsextremismus, über dessen Faszination für einen jungen Menschen und die Probleme beim Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene schreiben wollte, müssen sich Leserinnen und Leser mit denjenigen biographischen Angaben begnügen, die der Autor für angemessen hielt, doch wären bisweilen – ohne biographischen Entblößungen für Voyeure das Wort zu reden – ausführlichere, klarere, unverschlüsseltere Auskünfte (beispielsweise über seine Mutter) für das Verständnis seiner Entwicklung sinnvoll gewesen. So  radikal, gewalttätig, aufmüpfig und ungebärdig er als junger Mensch auch gewesen sein mag, hat er doch das Abitur auf dem altsprachlichen Zweig seines Gymnasiums bestanden, Interesse für Sprachen entwickelt und die Grundlage für ein Philosophiestudium gelegt. Ein wirklich schlechter und vor allem renitenter Schüler, als der er sich stilisiert, kann er also nicht gewesen sein.

Der Autor betont in seinem Buch Mein Vaterland wie auch in Interviews, z. B. 2018 mit der Kontrast-Redaktion unter der Überschrift Ex-Nazi: „Ich wollte die Welt verändern“, https://www.printfriendly.com/p/g/mjZ4cH, dass es sein eigener Wille und seine alleinige Entscheidung gewesen sei, Neonazi zu werden. Es habe keine Verführung durch andere oder ein „Hineinrutschen“ in die Szene gegeben. Auf seiner Homepage heißt es: „Ich bin der kleine Spalt zwischen meiner Herkunft, all meinen Möglichkeiten und meinen Entscheidungen“ und an anderer Stelle: „Niemand muss Nazi sein, egal, was er oder sie erlebt. Es ist stets eine eigene Entscheidung“. Und das bedeutet, dass der Weg, den Weißgerber beschritten hatte, kein von wem oder wodurch auch immer vorgegebener Weg gewesen sei, beispielsweise determiniert durch seine prekäre Familiensituation, was geradezu klischeehaft dem verbreiteten Stereotyp über die Herkunft von Neonazis entsprochen hätte. Weißgerber verweist auf Kameraden, die aus intakten, stabilen und wohlhabenden Familien stammten bzw. stammen und den gleichen Weg wie er gegangen seien (vgl. S. 175).

 

Was war es, was Christian Weißgerber als Kind und Heranwachsenden so faszinierte und beeinflusste, dass er bewusst und zielgerichtet Neonazi werden wollte und wurde:

 

 - Der Wunsch, die ihn belastende familiäre Situation hinter sich zu lassen, gerecht behandelt zu werden und die Welt zum Guten zu verändern. Zu Ende gedacht bedeutete dies, das herrschende „System“ zu überwinden.

 

-  Die Faszination, die für ihn von der Geschichte des Nationalsozialismus ausging, ohne dass er genaue Informationen erhielt oder suchte und das als Wahrheit ansah, was „man“ so sagte, z. B. dass der Sieger die Geschichte schreibe und es „eigentlich“ ganz anders gewesen sei. Dies führte zu einem manifesten revisionistischen Geschichtsbild, dessen Narrative auch bei vielen Menschen seiner Umgebung, die keine bekennenden Neonazis waren, auf mehr oder weniger klammheimliche Zustimmung und auf Verständnis stießen. Korrigierende  Positionen wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder abgewertet, und überdies konnte man auf dem Gymnasium mit revisionistischen Geschichtsthesen Lehrkräfte verunsichern und bei gleichgesinnten Schülern und Schülerinnen punkten.

Stillschweigendes Einverständnis mit seinen rechtextremen Positionen begegnete dem jungen Mann immer wieder, z. B. auch bei Vorgesetzten während seiner Bundeswehrzeit, und festigte seine rechtsextremistische Position.

 

- Die feste Überzeugung, das Richtige zu wollen und zu tun, die jede andere Position nicht nur ablehnt, sondern als Verrat brandmarkt.

 

-  Die Anziehungskraft schwarz gekleideter Kameradschaften auf den Heranwachsenden als scheinbar festgefügte unverbrüchliche Gemeinschaften, die der ablehnenden Haltung anderer trotzte.

 

-  Beeinflussung durch die rechtsextreme Subkultur. Als „Einstiegsdroge“ diente u. a.  rechtsextreme Musik – im Gegensatz zu der „Mainstream“ -Musik und der in Thüringen (und namentlich in Eisenach) gepflegten Kirchenmusiktradition.  Idol waren beispielsweise Ian Stuart Donaldson (1957-1993), der Begründer von Blood and Honor,  und seine Band Skrewdriver (S. 83f.).

 

-  Die Betonung des Männlichen und  männlich-dominanten Verhaltens mit geradezu „wütender Protestmännlichkeit“(S. 11-14, 87), verbunden mit einem konservativen Familien- und Frauenbild, das vom patriarchalischen Kernfamilienkonzept ausgeht und die Gebärfreudigkeit der Frau propagiert, infolgedessen Abtreibung und Feminismus ablehnt und eugenische Positionen der NS-Zeit zur Züchtung des „Herrenmenschen“ vertritt (S. 43-45).

Das in der rechtsextremistischen Szene herrschende Männlichkeitskonstrukt nennt Weißgerber an anderer Stelle (S. 210) „toxische Maskulinität“ mit den ihr eigenen konstitutiven Elementen „Misogynie, Homophobie, Gewalt und die Unfähigkeit, anderen Emotionen als Hass und Wut Ausdruck zu geben“.

Damit zusammen hängt ein Frauenbild (S. 209-212, 245), das der Rezensent nicht nur als konservativ oder reaktionär, sondern als frauenfeindlich bezeichnet. Hinzu kommt Weißgerbers seinerzeit altersgemäße pubertäre Sicht auf Frauen (Heuilige und Hure in einem), die einerseits zu einer frühen Verlobung und

andererseits zu deren baldigem Scheitern führte (S. 137f., 143f., 245).

 

-  Die Clique bzw. Peer-Group als Familienersatz (S. 37, 48f., auch S. 240, 246).

 

 

Sobald Weißgerber in der  Neonaziszene eingeführt war und Fuß gefasst hatte, versuchte er, die Stagnation der Freien Neonazi-Kameradschaften, die eng mit der NPD verbunden waren, zu überwinden. In Absprache mit dieser Partei gründete er eine eigene rechtsextremistische Jugendorganisation, deren Mitglieder er aber bald für unfähig und ungeeignet hielt, die von ihm für notwendig gehaltenen politischen Veränderungen herbeizuführen. Ausführlich legt Weißgerber im Kapitel Von Kraken, Datenzäpfchen und Konsumverzichtlern (S. 106-111) dar, was seiner Ansicht nach in der rechtsextremistischen Szene unzulänglich war, z. B. die Deutschtümelei oder die Übernahme nationalsozialistischer Kultformen sowie die personelle Zusammensetzung der Szene mit zahlreichen Skinheads und Hooligans („hochgewachsene gewaltaffine Fleischberge“ – S. 109), von denen nichts Substantielles zu erwarten war, „ein notwendiges Übel auf dem Weg zur Revolution“, geeignet als „Kanonenfutter“ (S. 109). Und der Autor fährt fort (S. 109): „Aber der vor allem wirtschaftlich wichtigste Typus eines solchen Dumpfnazis waren unangefochten die ‚Kraken’. So wurde das  meist glatzköpfige, gelegentlich auch mit Hitlerscheitel auftretende Mitläuferfußvolk bei uns genannt. In meinen Augen waren sie wie Tintenfische, sowohl weich in der Birne als auch kopfhaar- und rückgratlos“ (S. 109). Aber sie kauften die CDs mit rechtsextremer Musik, Szeneklamotten, szenetypische Aufnäher und Devotionalien, und sie „soffen zu allen Anlässen exzessiv“. Damit brachten sie als „Konsumnazis“ Geld in die Kasse (S. 109f.).

Einen Ausweg aus den Unzulänglichkeiten der vorgefundenen rechtsextremistischen Szene boten dem siebzehnjährigen Christian Weißgerber die Autonomen Nationalisten im südwestlichen Thüringen, die darüber hinaus Verbindung zu Gleichgesinnten anderenorts, z. B. in Dortmund (S. 204-208) oder  zu der tschechischen Gruppe Národní Odpor (Nationaler Widerstand, S. 204f.) hatten, die aber auch mit dem „Krakenproblem“ konfrontiert waren (S. 206).

Bei den Autonomen Nationalisten , die sich als eine Art Elitetrupp verstanden (S. 109) machte Weißgerber Karriere, gehörte zu deren Führungskadern, trat als Liedermacher auf, spielte in einschlägigen Bands und wurde ihr Ideologe. Ziel der Autonomen Nationalisten war ein Rechtsextremismus neuer, moderner Prägung, der sich von den neonazistischen Strukturen der NPD und deren Gruppierungen mit Skinhead-Outfit und  offener Orientierung am Nationalsozialismus abhob, um Menschen jenseits der NPD-Klientel zu erreichen. Auf einmal waren bei Demonstrationen englische Slogans möglich, was bei NPD-Aufmärschen undenkbar war (S. 107-109). Und in der Art, öffentlich aufzutreten, schaute man sich vom politischen Gegner beispielsweise die Vermummung und den „Schwarzen Block“ ab, zeigte bei aller prinzipiellen Gegnerschaft Sympathien für die RAF und Rudi Dutschke (S. 198-204). Mit der linken Autonomenszene war man sich auch in der Kapitalismuskritik und in der Ablehnung Israels recht nahe (S. 214) und sah infolgedessen „antikapitalistische Linke, die sich mit Palästina solidarisch erklärten oder sich selbst als antizionistisch identifizierten, weniger als Feinde an, sondern vielmehr als Glaubensbrüder mit kleinen Meinungsverschiedenheiten“ (S. 199).

Die Sprache der Autonomen Nationalisten veränderte sich; sie wurde weniger aggressiv, als das in der rechtsextremistischen Szene üblich war: „Label-Kosmetik“, „Weichspülen“ waren angesagt. Die nach wie vor eindeutig  rechtsextremistische Botschaft sollte sympathisierende Außenstehende nicht länger durch altbekannte Reizbegriffe provozieren. Dem Wolf wurde Kreidefressen verordnet. Aus antisemitischen/antijüdischen Positionen wurden antizionistische; nicht „die“ Juden wurden als Feinde gesehen, sondern die Zionisten und Israel, die „US-raelischen Kriegstreiber“ und das „internationale Kapital“ (S.149). Gewalt gegen Einzelpersonen wurde abgelehnt, weil man sich darüber im Klaren war, dass Gewalt Sympathisanten aus dem rechtskonservativen bürgerlichen Lager abstoßen könnte (208). Statt Nationalsozialisten bezeichnete man sich als „nationale Sozialisten“ (S. 196).Man sprach nicht mehr von Rassen und Rassezugehörigkeit, sondern von Ethnopluralismus, von unterschiedlichen Kulturen und, auf  Deutschland bezogen, von der Deutschen Kultur, die es zu bewahren gelte. Andere Kulturen wurden nicht abgelehnt – sie sollten sich nur  auf ihre angestammten Territorien beschränken. Propagiert wurde eine Welt der Vaterländer ohne Vermischung und Migration. Weißgerber schreibt: „Der Ethnopluralismus will die Lebensverhältnisse unzähliger Menschen nach einer fixen Idee ausrichten und sie zu bloßen Anhängseln sich gegenseitig in Schach haltender Volkskörper machen“ (S. 191).

Der Begriff Ethnopluralismus machte es den Autonomen Nationalisten möglich, Muslime und den Islam nicht prinzipiell als „Feinde deutscher Nazis“ zu sehen, da es durchaus Ähnlichkeiten zwischen dem islamistischen Islam und extrem rechten Weltanschauungen gebe, beispielsweise den „Absolutheitsanspruch der eigenen Wahrheit und Moralvorstellungen, [die] konservativen Geschlechterbilder, [den] Antifeminismus“ usw. (S. 213f.). Dennoch seien die Muslime im politischen Tageskampf eine gute „strategische Zielscheibe“, weil sich mit ihnen „in Zeiten weitverbreiteter antimuslimischer Vorurteile […] leicht eine größere Gefolgschaft rekrutieren“ lasse (S. 213).

Problematisch aber ist es, wenn Weißgerber den Begriff Europa der Vaterländer mit NPD und AfD verbindet (S. 189), denn dieser Terminus geht auf die französische Europapolitik unter Charles de Gaulle („l’Europe des patries et de la liberté“) zurück.

 

Andere Versatzstücke des Rechtsextremismus wurden dagegen weniger in ein modernes Gewand gehüllt, zum Beispiel das traditionelle Familien- und Frauenbild, das bis weit in die Mitte der Gesellschaft wirkt, eine verquere Sexualmoral (S. 135f.) und Machogehabe. Selbstverständlich war man bei den Autonomen Nationalisten homophob (S. 66, 73, 135f.), lehnte die Ehe für alle, das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Partnerschaften, den Feminismus und alles, was mit „Gender“ zu tun hat, strikt ab. All diese Theoreme werden in Weißgerbers Buch genannt und zum Teil aus eigenen Grundsatzpapieren belegt.

 

Erwähnenswert ist überdies die zunehmend dogmatisch ökologische Ausrichtung der Autonomen Nationalisten mit Konsumverzicht, Vegetarismus und Alkoholabstinenz (S. 110f., 221).

 

Als Zwanzigjähriger geht Weißgerber als scheinbar gefestigter Rechtsextremist an die Friedrich-Schiller- Universität Jena und beginnt dort u. a. ein Philosophiestudium. War er es, der bisher die aktive Rolle im Kampf gegen die Antifa inne hatte, wurde er im universitären Bereich rasch zum Angegriffenen: es gab Flugblätter gegen ihn als Rechtextremisten, Universitätsangehörige brachen den Kontakt zu ihm ab, verweigerten die Zusammenarbeit in Seminaren, grüßten ihn nicht mehr und isolierten ihn damit (vgl. S. 221-224).

 

So bewusst und forciert Weißgerbers Eintritt in die rechtsextremistische Szene in Eisenach und Südwestthüringen vor sich ging, so wenig spektakulär und eher bedächtig erfolgte die gut achtzehn Monate dauernde Abwendung von den bisherigen Überzeugungen. Die Gründe für den Ausstieg liegen einerseits in Weißgerbers Intelligenz, seiner Fähigkeit, eingenommene Positionen trotz ideologischer Scheuklappen zu überdenken und sich mit den Vorstellungen bisheriger politischer Gegner auseinanderzusetzen, andererseits in seiner Erkenntnis, das Ziel der Autonomen Nationalisten, eine nationale Revolution herbeizuführen, nicht erreicht zu haben, also gescheitert zu sein. Ursache hierfür waren unter anderem Streitigkeiten innerhalb der Szene, die Tatsache, dass „Autonomer Nationalismus und Schwarzer Block“ sich „nicht längerfristig als permanente Lebens- und Agitationsform in der Naziszene [haben] durchsetzen können“ (S. 228). „Uns fehlten“, fährt Weißgerber fort, „noch die Wutbürgerbataillone, die heutigen Nationalrevolutionären den Rücken stärken“ (S. 228f.). Und er ist der Ansicht, dass „eine elitäre Avantgarde ohne ein ihr nachfolgendes Massenheer […] eben doch nicht mehr als ein Haufen Überambitionierter mit Hang zu größenwahnsinniger Selbstüberschätzung“ ist (S. 229). Doch zeigt die Geschichte der Oktoberrevolution in Russland, was eine Avantgarde, so sie eine ist und keine illusionäre Traumtänzertruppe, begünstigt durch innerstaatliche und äußere Umstände, alles vermag. Doch diese günstigen Bedingungen gab es in Deutschland um 2010 nicht. Aber Weißgerber nennt auch eigene Fehler als Gründe für das Scheitern: seine Arroganz und „Nazi-Popstar-Allüren“  „die Überschätzung der eigenen Bedeutung und […] Übertreibung der eigenen Rolle“, die „Hand in Hand [gingen] mit der alles zertrümmernden Moralkeule gegen alles und alle, die sich nicht meinem Wort beugen wollten oder nicht meinen Vorstellen entsprachen“ (S. 230). Was Weißgerber hier über sich selbst schreibt, entspricht in vielem dem Verhalten, das er seinem Vater vorwirft und das er lernen musste abzulegen.

Aus der Enttäuschung des Scheiterns heraus und nach ersten Distanzierungsversuchen stellte Weißgerber seine Mitarbeit in der rechtsextremen Szene ein, trat nicht mehr öffentlich als Redner oder Sänger auf, nahm nicht mehr an Treffen seiner bisherigen Kameraden teil. Später schloss er sich der Aussteigerorganisation Exit an.

Weißgerber macht deutlich, dass der Ausstiegsprozess keine einfache Sache ist, die man von heute auf morgen bewerkstelligen könne. Der Abbruch der Beziehungen zum bisherigen Freundes- und Kameradschaftskreis erfordert psychische Kraft. Der Abbau bisheriger Ressentiments und Vorstellungen, die De-Radikalisierung, benötigt Zeit. Das Zusammenbrechen eines für unverbrüchlich gehaltenen Weltbildes führt zu Unsicherheiten und Depressionen. Bisherige Ressentiments und Einstellungen kritisch zu hinterfragen und sie in der Folge mit rationalen Argumenten abzulehnen, ist das eine, sie aber auch emotional zu überwinden, etwas ganz anderes. Homophobie als Vorurteil und intolerantes Verhalten zu begreifen und zu verurteilen,  fällt möglicherweise leicht – zwei sich in der Öffentlichkeit küssende Männer aber auch vom Gefühl her zu akzeptieren, benötigt Zeit, nachdem man lange Zeit davon überzeugt war ,,dass „homosexuelle Paare […] die Erbsubstanz des deutschen Volkes auf doppelte Weise“ schwächten, weil sie einerseits „keine Nachkommen für die Volksgemeinschaft“ produzierten und weil andererseits „ihr Erbgut defizitär“ sei – „gerade weil sie homosexuell sind“ (S. 135f.).

 

Im Epilog zu seinem Buch, dem Postskriptum: Über den ‚neuen’ Patriotismus (S. 252-256), warnt Christian Weißgerber vor den Identitären und der AfD als Wölfen, die mehr oder weniger mit Schafpelzen drapiert seien. Deren Programm entspreche in vielem dem, was die Autonomen Nationalisten „ideologisch und strategisch“ schon vorweg genommen hätten (S. 252). Diesen Gruppen der Neuen Rechten könnten sich alle diejenigen anschließen, „die von der Rettung des deutschen Volkes träumen, aber sich in den Reihen der offen agierenden Nazis nicht wohlfühlen“.  Sie gewönnen Menschen für sich, die „keine Vergangenheit in der Naziszene“ hatten, und dienten gleichzeitig als Auffangbecken für “Nazis, die lieber brave Patrioten sein möchten“. (Von „strukturellen Ähnlichkeiten zwischen ‚richtigen’ Neo-Nazis und ‚bloßen’ nationalpopulistisch Gesinnten hatte Weißgerber schon zuvor – S. 195 ‒ gesprochen).

Hinzu kämen in der AfD „Alibi“- Homosexuelle/ - Juden/ - Migranten, obwohl diese Partei „hauptsächlich aus alten weißen Männern besteht und offen antisemitische und schwulenfeindliche Äußerungen in einigen Landesverbänden gang und gäbe sind“. Die „prominent  ausgestellten schwulen und lesbischen Menschen und prohomosexuellen Argumente“ dienten vor allem dazu, mit ihnen „antimuslimische Hetze“ zu betreiben (S. 150).

 

Allen Gruppierungen der traditionellen Rechtextremisten und der Neuen Rechten gemeinsam sei ihr eigentümliches Verhältnis zu Fakten, die sie nur selektiv wahrnehmen und so ‒ losgelöst von ihnen ‒ eine Parallelwelt imaginieren. Weißgerber schreibt (S. 252f. ): „Sie glauben keinem Fakt, den sie nicht selbst geschaffen haben, keiner Quelle, die nicht Teil ihrer Paralleldiskurse ist. Diese Diskurse bestehen fast immer entweder aus zurechtgesponnenen Halbwahrheiten, frei erfundenem Unsinn oder unverhohlenen Lügen. Die gezielte Desinformation dient dabei der eigenen ‚alternativen’ Faktenlage des Volkswillens – die Welt als [ihr] Wille und [ihre] Vorstellung. […] Ihr Demokratieverständnis gleicht demjenigen, das ich während meiner Zeit als Nazi vertrat: Volksherrschaft heißt direkte Selbstbestimmung des ‚Volkes’ – nicht Repräsentation, sondern Verkörperung des Volkes und seines Willens in den starken Männern, die die Geschicke der Politik lenken. Vertreter dieser Politik müssen nicht gewählt werden. […] Anhängerinnen und Anhänger dieser Vorstellung können jedoch demokratische Prozesse auf formaler Ebene theatralisch mit Vereinsstatuten und Parteitagen nachahmen […]. Dies ändert jedoch nichts daran, dass ein Großteil von ihnen die plurale Gesellschaft verachtet und eine autoritäre Staatsform jeder repräsentativen Demokratie vorzieht“ – und nicht nur „vorzieht“, wäre hinzuzufügen, sondern als Ziel anstrebt. Und auch nicht nur eine autoritäre, sondern eine totalitäre Gesellschaft. Um diesem Ziel näherzukommen und Unterstützung über die inneren Zirkel hinaus zu erhalten, sucht man den Schulterschluss mit fundamentalistischen Gruppierungen wie „Abtreibungsgegnerinnen und Lebensschützern“, mit Besorgten Eltern, Antifeministen und Antifeministinnen (und für 2020 kann man hinzufügen: mit Impfgegnern und Impfgegnerinnen, QAnon- und Aktion Kinder in Gefahr- Anhängern und Anhängerinnen, mit Vertretern und Vertreterinnen von Ordo Iuris sowie mit den Querdenkern und Querdenkerinnen). Neue Rechte und traditionelle Rechtsextremisten sind strukturell „völkisch, autoritär und antipluralistisch“ (S. 255), sehen sich „als die einzigen ‚Gesunden’ und ‚Vernünftigen’“, die im Namen einer behaupteten schweigenden Mehrheit  sprechen. Nun, für eine wie auch geartete Mehrheit sprechen sie nicht. Aber für ihre Vorstellungen finden sie Anhänger bis in die Mitte der Gesellschaft, „denn Rassismus, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit, Klassenscham und andere Diskriminierungsformen sind strukturelle Probleme unserer Gesellschaft“  (S. 256). Und so schließt Weißgerber mit einem Appell: „Diesen Herausforderungen müssen wir uns aus einer spezifischen europäischen Perspektive mit unserem koloniale Erbe und der historischen Verantwortung für den Nationalsozialismus stellen, um gemeinsam eine bessere Zukunft für alle zu realisieren. […] Jeder Einzelne von uns ist […] mitverantwortlich für den Aufstieg autoritärer  Ideologien wie für ihre Bekämpfung“ (S. 256).

 

Christian Weißgerbers  Buch ist allen zu empfehlen, die sich mit dem Rechtsextremismus beschäftigen und mit der Frage, warum und wie junge Menschen sich zu Rechtsextremisten entwickeln. Und es gibt darüber hinaus Auskunft, wie viel Mut und Entschlusskraft erforderlich sind, um neue Wege zu gehen, die alten Überzeugungen hinter sich zu lassen und dafür von den bisherigen Verbündeten als Verräter gebrandmarkt und bedroht zu werden.

Weißgerber weist zu Recht darauf hin, dass rechtsextremistische Positionen auch in der Mitte der Gesellschaft verankert sind (man denke an das traditionelle Familien-, Männer- und Frauenbild, an die Ablehnung von Feminismus und Gendertheoremen, an Vorbehalte gegen Migration und den Islam) und diese Mitte somit auch nicht davor gefeit ist, nach rechts abzudriften. Hier gilt es aufzuklären und eine scharfe Grenze zwischen demokratischem Konservatismus einerseits und Rechtsextremismus und Rechtsradikalität andererseits zu ziehen.